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Chronik
| (Gemeinde-Nachrichten, 18. Januar 1991)
(in gekürzter Form: Rhein-Neckar Zeitung, 31. Januar 1991)
Erster dramatischer Erfolg der Goukelkappe
Am 30.12. des vergangenen Jahres wagte der Bammentaler Theaterverein ein mehrfaches Risiko. Zum ersten Mal wurde nämlich ein ernstes Stück aufgeführt. Außerdem handelte es sich bei „Sturmwind" um eine Uraufführung, und ebenfalls zum ersten Mal spielten Jugend- und Erwachsenengruppe gemeinsam. Zunächst das Wichtigste: Die Aufführung war ein großer Erfolg! Eröffnet wurde das Spiel von vier Jugendlichen, die (beim wohlgeordneten Hausaufgabenabschreiben) auf die über ihren Ort geplante Autobahn A 12 zu sprechen kommen. Der fortschrittsgläubige Karl (Tim Leibert) treibt, angeheizt von der ihn vergötternden Netti (Helen Kleinschmitt), Tina Wagner (Verena Bosch), die Tochter des Bürgermeisters, und Tonio (Marion Neubauer) in die A 12-Opposition. In diese Situation platzen der Bürgermeister(Michael Mende) und sein Qrtsbaumeister (Uwe Lay). Die nun politisierte Tina fragt ihren Vater nach seiner Haltung in bezug auf die A12. Dieser ist, im Gegensatz zu seinem tumben Gehilfen, ein politischer Fuchs, flüchtet in Allgmeinplätze und läßt schließlich seine Position offen. Zurück läßt er auch eine Zündmaschine für Sprengstoff, die Tina und Tonio schließlich für eine phantasievolle Protestaktion gegen die A 12 mißbrauchen.
Der zweite Akt spielt im Gymnasium. Tina liest zu Beginn dem Rest der Klasse die "Pressereaktion" auf ihre Protestaktion vom Vortag vor. Sofort greift die Lagerbildung auf die gesamte Klasse über, eskaliert und führt zur tatkräftigen Auseinandersetzung zwischen Tonio und Karl. Die Warnrufe der naiven Hiltrud (Anja Lochner) nützen nichts, die beiden Kontrahenten laufen dem Deutschlehrer Reichel ins Messe. Selbiger ist ein rechtes Ekel, interessiert sich überhaupt nicht für die A 12, sondern in erster Linie für Interpretation. Er demonstriert dann auch einen subtil-humoristischen Fall von Fehlinterpretation. Bemerkenswert nicht nur an dieser Stelle die szenischen Spielereien des Autors, ohne jedoch die Haupthandlung aus dem Auge zu verlieren. Zur Schulklasse gehört, außer Tina, Tonio, Karl, Netti und Hiltrud auch Barbara (Silke Heinrich), die Streberin, die dem Lehrer immer schön genau die (falschen) Antworten gibt, die selbiger von ihr erwartet. Das vom Publikum heftig belachte Szenario um den skurrilen Deutschlehrer und die frechen Konter von Tina und Tonio wird schließlich unterbrochen von der überaus kontrollierten Lehrerin Pümplin (Waltraud Vögele). Diese setzt sich scheinbar unverblümt für Tina und Tonio ein und begrüßt deren Protest gegen die A 12. In Wirklichkeit ist sie aber nur an einer anderen Variante interessiert, die, näher an ihrem Heimatort, für sie besser erreichbar wäre. Ausgerechnet der Deutschlehrer entlarvt am Ende des 2. Aktes diese Doppelbödigkeit. Für die beiden jugendlichen Protagonisten steht jedoch fest, Bürgermeister und Frau Pümplin sind Alliierte im Kampf gegen die A 12. In dieser Konstellation besteht der eine dramatische Ansatz des Stückes. Tina und Tonio meinen voranzukommen, ohne zu wissen, daß die A 12 längst ein Faktum ist. Doch es gibt eine zweite dramatische Komponente, die die Erwachsenen betrifft. Wie schon im Titel angekündigt, tobt fast während des ganzen Stückes ein mächtiger unheimlicher Sturm. In den eher komödiantischen Akten eins und zwei taucht er schlaglichtartig immer wieder auf, dominiert aber nicht die Handlung. Im dritten Akt schließlich, wo das Publikum auf Antworten in bezug auf die A 12 wartet, dringt er mehr und mehr in die Handlung ein. Im Vorhof, einer außerorts gelegenen Gaststätte, treffen die Protagonisten Tina, Tonio, Bürgermeister und Qrtsbaumeister noch einmal zufällig aufeinander. Von Anfang an ist dezent aber ständig das Heulen des Sturmes zu vernehmen (Kompliment an die beiden Tontechniker Bernd Segnitz und Peter Mutter). Der Sturm eskaliert mehr und mehr. Seltsame Meldungen kommen über das Radio. Etwas passiert, aber es wird dem Publikum nicht direkt gesagt, was! Der Bürgermeister versucht zu verstehen, der Ortsbaumeister versteht nichts, Tina und Tonio sonnen sich im vermeintlichen Siegestaumel, einer trügerischen Idylle. Denn irgendwann kommt ein Anruf des Landrats. Er versucht dem Bürgermeister etwas klarzumachen, dieser ist nur verwirrt; schließlich verlangt der Landrat nach Tina und sagt ihr „Wenn ich in meinem, Leben noch irgendwie Gelegenheit hätte, würde ich versuchen, diesen Bau zu stoppen!" So tritt eine kuriose Zweiteilung der Handlung ein: Der Bürgermeister beginnt allmählich zu begreifen, daß irgendetwas für die Menschheit Schwerwiegendes passiert, Tina und Tonio feiern! Über den Dingen steht Julchen (Antje Adam), die Tochter der Wirtsleute. Tina hat zu Beginn des Aktes in prosaischer Weise deren Entwicklung gezeichnet Eine „Geistesgestörte", die schon durchs Dorf gerannt sei und sich in den Wahn verrannt habe, alle Menschen säßen auf der sinkenden Titanic, aber keiner wolle es wahrhaben! Man habe sie in die Klapse gebracht Das Julchen des dritten Aktes ist ein anderes, gereiftes Julchen. Sie hat nicht mehr das Bedürfnis sich mitzuteilen, ist an der Reaktionslosigkeit zerbrochen. Doch sie als einzige weiß, was passiert Auch als der Sturm nocheinmal abrupt aussetzt, steht für sie die weitere Entwicklung fest Nicht jedoch für den Bürgermeister. Dieser findet sofort zurück zur alten Selbstgefälligkeit, prahlt regelrecht vor Tina und Tonio damit, wie er die Autobahn nach Ferienbach bekommen hat. Erst als der Sturm zurückkehrt und das Ende des Stückes einleitet, sieht auch er die nahende Katastrophe. Er starrt mit Julchen durch ein imaginäres Fenster ins Publikum. Ihr Dialog wird zur Anklage und zur Kapitulation! Der Ortsbaumeister hat in Panik Tina und Tonio mit in den Keller des Hauses genommen, Tina kehrt zurück und teilt dem Vater ihre Geringschätzung für seine Haltung mit, teilt ihm mit, daß sie stolz ist, zu der Generation zu gehören, die endlich etwas tut! Der Sturm ist so laut, daß er die letzten Sätze fast überdeckt
Julchen: Ist sie noch da?
Bürgermeister: Nein.
Julchen: Dann beantworten sie ihre Frage!
Bürgermeister: Wir waren die Generation, Tina, wir waren die Generation!
Insgesamt erscheint das Stück, dessen Autor Michael Mende - selber Mitglied des Theatervereins - auch auf der Bühne überzeugte, für eine Eigenproduktion erstaunlich schlüssig. Komische und ernste Elemente wurden so kontrastiert und dosiert eingesetzt, daß dem Zuschauer oft das Lachen im Halse steckenblieb. Julchen, die von der normalen - und normal heißt hier ja wohl: in unverantwortlicher Weise unsere Umwelt zerstörenden - Gesellschaft in die „Klapse" gesteckt wird, wird zum hellsichtigen Propheten des „Untergangs der Titanic". Einmal mehr sagen auch in diesem Stück nur Kinder und Narren die Wahrheit. Als dramaturgischer Kunstgriff entpuppte sich die Wahl des Titels und seine Umsetzung im Bühnengeschehen: Der Sturmwind als eine unerklärliche, unlogische, allen verzweifelten Erklärungsversuchen standhaltende Naturgewalt, die sich in einer Endzeitstimmung verbreitenden Art und Weise über die zur Absurdität verkommenden Handlungen der Personen hinwegsetzt. So entsteht ein überaus eindrucksvolles Bild für die Absurdität und Lächerlichkeit mancher heutzutage so selbstverständlich erscheinender Dinge. Wenn ich heute in der Zeitung lese, daß es in Neuseeland gang und gäbe ist, daß sich Menschen aufgrund des Ozonlochs einmal im Jahr mit Krebs infizierte Hautteile wegoperieren lassen, empfinde ich noch eimmal das gleiche Unbehagen, das durch den absurden Sturmwind in Bammental geweckt wurde.
Die Inszenierung, die von Christel Herold-Mende besorgt wurde, zeugt von Erfahrung und Sensibilität im Bereich des Auslotens von Möglichkeiten, die das Stück für die Bühnendarstellung bot. Die Inszenierung hatte einen durchgehenden Rhythmus. Spannung und Entspannung, Komik und Beklemmung wechselten in einer Art und Weise, die Langeweile oder Hektik nicht aufkommen ließ. Die ganze Sache wurde abgerundet durch eine geschlossene schauspielerische Ensembleleistung, in der die Jungen den Älteren nicht an Souveränität nachstanden, und die Älteren auch nicht die Spielfreude der Jüngeren vermissen ließen. Alles in allem nicht nur ein gelungener, sondern für mich beeindruckender Theaternachmittag.
(Mathias Nölting, Leiter des Bereichs Schauspielausbildung am "Theater die Spur", Karlsruhe) |
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